Ihr Browser ist veraltet. Bitte aktualiseren Sie auf Edge, Chrome, Firefox.

Gelitin Gelitin

Österreichische Künstlergruppe, gegründet 1993

Als 1916 eine Gruppe von Dadaisten, darunter Hugo Ball, Emmy Hennings und Tristan Tzara, begann, im Zürcher „Cabaret Voltaire“ aufzutreten, war Europa – und nicht nur die Kunstszene – erschüttert. Ihre provokativen Performances wurden legendär. Selbst in den 1960er Jahren inspirierten sie nicht nur künstlerische Happenings und die Gruppe Fluxus, sondern auch die Gründer der Situationistischen Internationalen, die eine wichtige Rolle bei den Studentenrevolten von 1968 spielten. Wenn heute Gelitin auftritt, ist niemand mehr erschüttert, obwohl diese vier (Ali Janka, Tobias Urban, Florian Reither und Wolfgang Gantner) keineswegs die provokante Potenzial des Dadaismus erzwingen. Sie treten gerne in der Öffentlichkeit entweder halbnackt oder in lächerlicher Mode auf. Mit fast kindlicher Naivität erschaffen sie absurde Geräte aus Abfall, organisieren infantile Installationen mit Stofftieren, stellen Statuen aus Würsten her und malen riesige, bunte Bilder, die manchmal eine erschreckend hässliche Mona Lisa zeigen. Alles, was diese Gruppe tut, ist pure Provokation.

Was ist der Sinn dieser Provokation, wenn niemand mehr erschüttert wird? Heute weiß fast jeder, dass Kunst nicht nur Schönheit, perfekt proportionierte nackte weibliche Körper oder Porträts bemerkenswerter Bürger ist. Künstler werden auch nicht mehr als Genies betrachtet, vor denen wir uns verneigen. Tatsächlich hat sich vieles seit der Dadaismus-Ära verändert. Doch das tief verwurzelte Bedürfnis, die Welt zu idealisieren und ihre Schatten oder ihre unvollkommene Seite nicht zu sehen, bleibt uns erhalten. Und genau diese schattige und oft traurig absurde Seite der Welt hat Gelitin besetzt und mit seinen eigenen Gräueltaten dem Licht zugewandt. Auf der Hannover Expo 2000 stellte die Gruppe „Weltwunder“ aus. Wer es sehen wollte, musste unter Wasser gehen und durch einen drei Meter langen Kanal schwimmen. Und was sahen sie? Das blieb ein Geheimnis. Auf dem Hügel Colletto Fava bei Genua errichteten sie ein 55 Meter langes rosa Kaninchen, das in dieser besonderen Landschaft kulturelle Denkmäler parodiert. Und die Performances dieser Gruppe im öffentlichen Raum sind ebenfalls Parodien an sich: Mit alten Karnevalstricks, in Frauenkleidung, untergraben sie die eitle männliche Autorität vollständig. Das Potenzial der Parodie, sich der Unterdrückung aller repressiven Machtstrukturen zu entziehen, wurde überzeugend von der amerikanischen Philosophin Judith Butler und zuvor von der russischen Theoretikerin Michail Bachtin gezeigt. Und auch wenn Gelitins Performances heute niemanden mehr erschüttern, schaffen sie es dennoch immer noch, die Zuschauer zu provozieren.

Text von Noemi Smolik