Geboren 1960 in Fukuoka, Japan, lebt in New York City
Mit dem Erscheinen der japanischen Fotografen Nabuyoshi Araki und Daido Moriyama in den 1960er Jahren, die die Grenzen sexueller und gesellschaftlicher Tabus überschritten, schien es kaum vorstellbar, dass jemand noch weiter gehen könnte. Geboren in Japan und in New York lebend, bewies Noritoshi Hirakawa, dass es tatsächlich möglich ist. Doch mehr als die Sexualität selbst interessiert ihn die Beziehung von privatem und öffentlichem Raum, intime Beziehungen, in denen wir sexuelle Fantasien im Privaten unserer Schlafzimmer ausleben können, und das öffentliche Leben, in dem Sexualität und die mit ihr verbundenen Wünsche oft strengen Regeln und Verboten unterliegen. Was ist in der Öffentlichkeit akzeptabel und was nicht? Wann ziehen zufällige Zeugen eines sexuellen Aktes sich angewidert zurück, wann tun sie so, als hätten sie nichts gesehen, und wann schauen sie fasziniert weiter? In einem Experiment aus dem Jahr 1998 mit dem Titel „Reason of Life“ bittet Hirakawa junge Mädchen, in öffentlichen Räumen in Tokio Kameras unter ihren Röcken zu richten. Das Ergebnis sind perspektivisch verzerrte Ansichten zwischen den Beinen der Mädchen, ein Ort entfesselter Fantasien. Wer möchte nicht mehr sehen? Hirakawa zeigt diese leicht pornografischen Aufnahmen zusammen mit Fotografien, die die Reaktion zufälliger Passanten dokumentieren. In „Art in America“ aus dem Jahr 1997 bittet er Liebespaare, an öffentlichen Orten vor seiner Kamera zu sexen. Er lässt dann das Publikum entscheiden, welche Gefühle sie beim Betrachten der Fotografien empfinden: ein Gefühl von Schuld, Verlegenheit, Neugier, kein Gefühl von Scham oder sogar lüsternen Wunsch. Tatsächlich provoziert Hirakawa die Menschen dazu, zu entscheiden, was in der Öffentlichkeit akzeptabel ist und was hinter verschlossenen Türen bleiben sollte, sodass sie ihre eigenen Kriterien für Zensur entwickeln können.
In Japan erregte Hirakawa 2007 Aufsehen – ein Jahr vor der Nuklearkatastrophe von Fukushima – als er begann, Fotos malerischer japanischer Landschaften unter dem Titel „In Reminiscence of the Sea – Moonlight, Sunset“ auszustellen. Ein aufmerksamer Betrachter kann ein weiteres Tabu der japanischen Gesellschaft entdecken: das Atomkraftwerk. Sex kann zu wichtigen Fragen führen, und umgekehrt enden wichtige Fragen oft mit Sexualität. Wie Hirakawa erklärt: „Wenn ich ein Bild zeige, das einen direkten Bezug zu sexuellen Aktivitäten hat, hoffe ich, dass es dem Publikum die Möglichkeit gibt, über andere Dinge nachzudenken als nur über Sex. Andererseits möchte ich, dass die Menschen sich mehr auf den Sex konzentrieren, wenn ich mehrdeutige Bilder zeige.“
Text von Noemi Smolik