Václav Stratil, geboren 1950 in Olomouc, Tschechische Republik, lebt in Brünn
Welche Funktion kann Kunst in der heutigen Welt haben? Und welche Rolle spielt der Künstler? Ein Hirte, Prophet, Lehrer, Verführer, Asket oder Heiliger? Diese Frage ist in allen Arbeiten von Václav Stratil präsent, auch wenn sie auf den ersten Blick so unterschiedlich erscheinen mögen. Welche Funktion kann Kunst heute also haben?
Die europäische Kunst hat ihren Ursprung im christlichen Ritual – eine sich ständig wiederholende Sequenz von Handlungen, deren Ziel es ist, Angst und Unsicherheit zu überwinden. In diesem Sinne hat jedes Ritual auch eine meditative Dimension. In den 1980er Jahren schuf Stratil Federzeichnungen, die in einem Prozess entstanden, der viele Stunden in Anspruch nahm und ritualähnliche Züge hatte. Er setzte bis zu 20 Schichten von Linien auf riesigem Papier, das oft den Boden des Ateliers bedeckte, in dem er auch lebte. Schicht für Schicht trug Stratil die schwarze Tinte auf und bedeckte alles, einschließlich der Flecken und Spuren des Lebens. Auf diese Weise verband er sich mit der alten Funktion der Kunst, die sowohl ritualistische als auch meditative Handlungen umfasst.
Seit 1991 lässt Stratil Porträts von sich in lokalen Fotostudios anfertigen. Auf diesen vergrößerten Schwarz-Weiß-Fotos, die alle ihre Unvollkommenheiten aufweisen, sehen wir typischerweise eine Frontansicht seines Gesichts, das stark beleuchtet ist. Sein Blick scheint manchmal abwesend, manchmal so, als wolle er sein Publikum überwältigen. Mal ist sein Ausdruck ruhig, mal verzerrt in Grimassen. Manchmal trägt er eine Kapuze, die einem Mönchshabit ähnelt, oder wie in Gemälden frühchristlicher Heiligen, beinhalten die Bilder charakteristische Attribute wie ein Ei oder einen Löffel.
Stratils Selbstporträts, insgesamt mehr als 50, strahlen Askese und die Fähigkeit zu leiden aus, die von Mitgliedern religiöser Orden erwartet werden – aber nicht nur das. Man spürt auch Widerstand und Geduld – Eigenschaften, die für jede Heilung wesentlich sind. Vielleicht ist das der Grund, warum Stratil diese Serie von Porträts „Religiöser Patient“ nannte. Er verbindet sie mit einer weiteren alten Vorstellung von Askese und Leiden als einem wesentlichen Schritt auf dem Weg zur Heilung und Sühne. Nicht nur der mittelalterliche Altar verdeutlicht überzeugend, dass der Mensch auf dieser Reise jahrhundertelang von der Kunst begleitet wurde. Auch der Ursprung eines Kunstwerks war immer mit Leiden und Askese verbunden, und zwar nicht nur in der christlichen Tradition.
Stratil sieht sich jedoch nicht nur als Asketen. Aus den Titeln seiner Ausstellungen, die sowohl Fotos als auch Gemälde beinhalten, geht hervor, dass er sich auch als Lehrer oder guter Hirte versteht. Das alles wird mit Übertreibung verstanden, denn dieser einzigartige Künstler hat auch einen erfrischenden Sinn für Humor. Dies wurde zum Beispiel 1997 deutlich, als er die Zeichnungen von Karl Malich xeroxierte und unter dem Titel „Gemeinschaftsausstellung“ präsentierte.
Text von Noemi Smolik